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Nachfolgend drucken wir das Extrablatt vom 7. Juli 2023 von Le Bolchévik ab, Zeitung der Ligue trotskyste de France, Sektion der Inter nationalen Kommunistischen Liga. Beim Rachefeldzug gegen Jugendliche aus segregierten Stadtvierteln wurden laut Aussage des französi schen Justizministers bis zum 1. August 2023 insgesamt 2107 Personen vor Gericht gestellt und 1989 verurteilt, davon 1787 zu Haftstrafen. Wir fordern ihre sofortige Freilassung und die Aufhebung aller Anklagen!

7. Juli – Die Ermordung von Nahel Merzouk am 27. Juni durch die Bullen löste eine Welle spontaner und völlig gerechtfertigter Wut aus, welche die Regierung am Ende mit nie dagewesener Gewalt niederschlug. Eine Armee von 45 000 Bullen verbreitete tagelang Angst und Schrecken in den Stadtvierteln und Innenstädten; die Zahl der weiteren Opfer ist bis heute unbekannt, in Marseille wurde mindestens ein weiterer Jugendlicher von Bullen getötet. Faschistische Horden gingen in mehreren Städten dazu über, ihre eigenen Terroroperationen gegen Jugendliche durchzuführen. Die Rechte, die extreme Rechte und die Bullenverbände überbieten sich gegenseitig mit Erklärungen, in denen sie zum Bürgerkrieg gegen die Unterdrückten aufrufen. Nach der Niederlage im Kampf um die Renten und der heutigen Niederlage bei der Revolte in den Vorstädten gewinnt die Reaktion die Oberhand.

Die dringende Aufgabe, diesen reaktionären Umschwung aufzuhalten, besteht darin, die Arbeiterklasse und die Linke zu mobilisieren, um alle Jugendlichen gegen die Rachsucht der Kapitalisten zu verteidigen. Über 3600 Jugendliche wurden bereits verhaftet; die Regierung hat die systematische Inhaftierung all derer angeordnet, die von Bullen erwischt wurden, unabhängig davon, was ihnen vorgeworfen wird und welche Art von Beweisen gegen sie fabriziert wurden. Es gibt bereits mindestens 380 verhängte Gefängnisstrafen ohne Bewährung. Es ist Zeit, Proteste vor Polizeistationen, Gerichten und Gefängnissen zu organisieren in Solidarität mit den Jugendlichen. Sie müssen sofort freigelassen werden, und zwar alle ohne Ausnahme! Wir rufen die Arbeiterbewegung und die Linke dazu auf, die Verteidigung der Jugendlichen zu finanzieren (siehe Spendenbox).

Seit dem 5. Juli kursiert ein Aufruf für die Demonstration am 8. Juli: „Unser Land ist in Trauer und Wut“, der unterzeichnet wurde vom Adama-Komitee [benannt nach Adama Traoré, ein junger Schwarzer, der 2016 von der Polizei getötet wurde], France Insoumise (FI), den Gewerkschaften CGT und SUD und Organisationen wie NPA und anderen. In diesem Aufruf wird jedoch nicht einmal die Freilassung der gerichtlich verfolgten Jugendlichen erwähnt. Diese Verhaftungen sind jedoch eine direkte Bedrohung für die nächste Welle von Kämpfen gegen die Angriffe, die die Regierung führt und die auf Arbeitsplätze, Renten und den Lebensstandard der gesamten Arbeiterklasse abzielen.

Warum wird eine für jeden beliebigen Antirassisten so harmlose Frage wie die Verteidigung von Jugendlichen aus den Stadtvierteln gegen den rassistischen Terror der Bullen sowohl von der Regierung und der Rechten und der extremen Rechten als auch von einem Teil der Linken so sehr zur roten Linie erhoben? Weil es im aktuellen Kontext bedeutet, den Republikanismus in Frage zu stellen, der seit über hundert Jahren der ideologische Kitt und die moralische Grundlage des französischen Kapitalismus ist: die uneingeschränkte Loyalität zur bürgerlichen Ordnung und ihren Institutionen, die Verteidigung der Interessen des französischen Imperialismus, der „Laizität“ [Trennung von Kirche und Staat] gegen die Muslime. Sich mit der Polizei anzulegen, Privateigentum zu beschädigen oder zu zerstören, bedeutet, das Tabu der republikanischen Ordnung zu brechen. Ob es nun darum geht, diese Jugendlichen bedingungslos zu verteidigen, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen oder für eine Verbesserung der Situation in den Stadtvierteln zu kämpfen – all das erfordert einen Bruch mit diesem Republikanismus.

Jeder Kampf um ernsthafte Zugeständnisse für die Arbeiter setzt einen harten Kampf gegen die Bourgeoisie und ihren Staat voraus. Man kann nicht davon ausgehen, morgen solide Streikposten aufzustellen, wenn man heute nicht die Jugendlichen verteidigt, die es gewagt haben, sich gegen den Polizeiterror aufzulehnen. Jede neue Welle der Repression gegen die Arbeiterbewegung oder gegen die Gelbwesten wurde immer durch eine neue Attacke gegen die Jugendlichen in den Stadtvierteln vorbereitet.

Im Aufruf vom 5. Juli heißt es: „Nichts kann jedoch ohne eine andere Verteilung des Wohlstands und ohne den Kampf gegen soziale Ungleichheiten geschehen. Nichts geht ohne den Kampf gegen Armut und Unsicherheit...“ Der massive Wutausbruch in den Stadtvierteln nach dem rassistisch motivierten Mord an Nahel hat in der Tat den Schleier gelüftet und vor allen Augen den Verfall von Wohnungen, die immer weiter zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit und den Abbau des Bildungs- und Gesundheitswesens aufgezeigt. Deshalb bedeutet der Kampf gegen die Diskriminierung und Segregation der unterdrückten Minderheiten aus dem Maghreb und der Subsahara, für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für die gesamte Arbeiterklasse zu kämpfen. Und das kann nicht geschehen, ohne die grundlegendsten Interessen der Kapitalisten anzugreifen.

Die NUPES1 zerreißt sich

Der mickrige Aufruf „Unser Land“ vom 5. Juli war der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) trotzdem noch zu radikal. Sie weigerte sich, ihn zu unterzeichnen, weil er „eine hauptsächlich repressive Auffassung von der Polizei“ erwähnt. Damit holt die PCF die Forderung Roussels aus den Präsidentschaftswahlen nach der Einstellung von 30 000 zusätzlichen Polizisten wieder hervor (L’Humanité, 5. Juli). Die Sozialistische Partei (PS) ihrerseits konnte „die unqualifizierten Verurteilungen der Ordnungskräfte“ (Le Monde, 7. Juli) nicht schlucken.

Mélenchons FI hat den Aufruf unterzeichnet, aber ihr Programm unterscheidet sich ebenso wenig wie das des Adama-Komitees grundlegend von dem von Roussel und anderen. Sie alle suchen nach einem Weg, die Bourgeoisie davon zu überzeugen, dass sie sich in ihrem eigenen Interesse für die Stadtviertel einsetzt, und sie befürworten verschiedene Pläne für eine Polizeireform. So fordert der Aufruf „eine tiefgreifende Reform der Polizei, ihrer Einsatztechniken und ihrer Bewaffnung ... die Schaffung einer eigenen Abteilung für Diskriminierungen, die die Jugend betreffen, innerhalb der Verwaltungsbehörde, die der Rechtsverteidiger anleitet, und die Verstärkung der Mittel zur Bekämpfung von Rassismus, auch innerhalb der Polizei“. Mélenchon ist außerdem für die Einberufung junger Menschen zur Polizei, weil dadurch seiner Meinung nach „Rassismus und Gewalt innerhalb der Polizei zurückgehen würden“ (L’Opinion, 7. Dezember 2020). Sicherlich bringt Mélenchon dies in diesem Moment nicht zur Sprache, weil die Revolte erneut aufflammen würde, wenn jemand es wagte, sein Projekt umzusetzen.

Diese Pläne für eine „Polizeireform“ ketten Arbeiter und Unterdrückte an die Bourgeoisie, indem sie glauben machen, dass die Bullen eine unparteiische Kraft in den Diensten der gesamten Bevölkerung seien – als ob sie sowohl den kapitalistischen Ausbeutern als auch den Arbeitern und Jugendlichen dienen könnten.

Mélenchon besteht darauf, dass der Rest der NUPES keinen Grund hat, zu sagen, „sie hätten eine grundlegende Meinungsverschiedenheit mit mir“. Dennoch bilden die PS und die PCF eine Einheitsfront mit Macron, der Rechten und der extremen Rechten gegen Mélenchon, weil dieser sich geweigert hat, die Jugend aufzurufen, zu Kreuze zu kriechen. Das ehrt ihn, stellt ihn aber vor ein großes Problem: Einerseits wird er als Hauptpol der Opposition gegen die Reaktion wahrgenommen und will diese Rolle in der Tat spielen. Andererseits würde die Verteidigung der Jugendlichen aus den Vororten die NUPES und auch die FI sprengen, da beide auf den „republikanischen Werten“ basieren. Diese Jugendlichen bedingungslos gegen Repression zu verteidigen ist mit diesen „Werten“ unvereinbar, es kommt einem Bannfluch gleich für jeden, der den französischen Kapitalismus regieren will (und das ist es, was Mélenchon will).

Die NUPES und die FI selbst stecken in einer schweren Krise. Diese Situation bietet eine Gelegenheit für Revolutionäre, die Verteidigung der Jugend voranzutreiben und das Bündnis der Klassenzusammenarbeit zu brechen, welches in jeder Phase den Kampf für die Interessen der Arbeiter bremst. Dies ist der Moment, um im Kampf die Notwendigkeit einer revolutionären Partei zu zeigen! Dazu müssen die inneren Widersprüche der NUPES und der Gegensatz zwischen dem Republikanismus der gesamten Linken und dem Anspruch, sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, auf die Spitze getrieben werden, um den reaktionären Charakter der NUPES als ein in ihrer gesamten Zusammensetzung ausdrückliches Hindernis für die Verteidigung der Unterdrückten zu zeigen. Aber das ist eine Gelegenheit, welche Révolution permanente (RP), die sich sehr für die Verteidigung der Jugend einsetzt, nicht einmal in Erwägung zieht.

Für eine breite Front zur Verteidigung der Jugend!

Révolution permanente [in Deutschland verbunden mit Klasse Gegen Klasse/RIO] ruft zu Recht dazu auf, eine breite Front zur Verteidigung der Stadtviertel aufzubauen, und hat sich zu Recht geweigert, den Aufruf des Adama-Komitees zu unterzeichnen, indem sie sich insbesondere gegen dessen „Strategie, die Regierung zur Rede zu stellen und die Polizei zu reformieren“, aussprach, und sie verurteilt vehement die chauvinistischen Positionen der rechtesten Teile der NUPES (PS, PCF). Sehr richtig.

RP macht auch folgenden Aufruf: „Es ist dringend notwendig, die Amnestie aller festgenommenen Jugendlichen, die Aufhebung aller Sicherheits- und Rassismus-Gesetze oder das Fallenlassen des Einwanderungsgesetzes zu fordern.“ Dem stimmen wir zu. Die FI sollte dazu aufgefordert werden, dass ihre Parlamentarier solche Resolutionen sofort ins Parlament einbringen – entweder sie weigern sich und zeigen, was sie sind, oder die NUPES wird explodieren.

Aber RP prangert den Republikanismus nicht als Haupthindernis an, lässt die Spannungen, die an der FI zerren, unter den Teppich fallen, anstatt sie zu verschärfen, und legt somit nicht dar, wie die FI die Verteidigung der Jugend lähmt. Im Gegensatz dazu betrachtet RP den Aufruf vom 5. Juli als „fortschrittlichen Schritt“ und begrüßt

„die Reaktion von Teilen der Linken wie France Insoumise, die sich trotz des Drucks des Staates in diese Richtung geweigert haben, ‚zur Ruhe‘ aufzurufen, aber auch die breite Front von politischen Organisationen, Gewerkschaften, darunter die CGT, und Kollektive, die sich in einem am 5. Juli veröffentlichten Kommuniqué zur Unterstützung der Arbeiterviertel geäußert haben. Diese Stellungnahme stellt einen Bruch und einen Fortschritt im Vergleich zur Situation im Jahr 2005 dar. Bedauerlich sind hingegen der späte Zeitpunkt und ihre Logik, die Regierung zu befragen.“

So weigert sich RP trotz ihrer Kritik, die zentrale Aufgabe anzugehen: Um eine breite Front zur Verteidigung der Jugend aufzubauen, muss man gegen den Einfluss der mélenchonistischen Republikaner und für eine revolutionäre Führung kämpfen. Die Weigerung, einen solchen politischen Kampf zu führen, kann nur zur Folge haben, dass die Verräter an der Spitze der Gewerkschaften und die Mélenchon-Anhänger wieder an der Spitze der Bewegung bleiben – und die werden auch die Verteidigung dieser Jugendlichen untergraben. RPs Aufruf zu einer breiten Front führt nicht dazu, die Rolle der Führer von CGT, NUPES und der Mélencholisten zu entlarven, sondern baut im Gegenteil ihre Autorität auf.

In der gegenwärtigen Situation des Aufstiegs der Reaktion ist es weiterhin unser Ziel, für die Vereinigung der Arbeiterklasse zu kämpfen und sie als unabhängige Kraft gegen die Bourgeoisie und ihren Staat an die Spitze aller Unterdrückten zu stellen. Die Einheit der Jugend und der Arbeiterklasse zu erreichen wird also nur auf der Grundlage eines Bruchs mit dem Republikanismus und hinter einer revolutionären Avantgarde möglich sein. Genau das lehnt RP ab.

Der Kampf für die Befreiung der Jugendlichen muss Hand in Hand gehen mit Forderungen nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen, nach dem gleichen Status für alle Arbeiter, um die von den Bossen ausgeübte Rassenspaltung zu bekämpfen. Dies könnte ein Funke sein, um die Arbeiter dafür zu mobilisieren, den Aufstieg der Reaktion zu stoppen und die Organisierung der Arbeiterklasse für die nächsten Schlachten voranzutreiben.

Die Gewerkschaftsbürokraten und Mélenchon-Anhänger hingegen sabotieren jede größere Konfrontation, halten den Kampf in einem für die Bourgeoisie akzeptablen Rahmen, respektieren gewerkschaftsfeindliche Gesetze, beugen sich den Strafanträgen und versuchen, den Wunsch der Arbeiter, Macron und die ihm dienenden Parasiten zu besiegen, aufs Parlament und auf eine Reform des kapitalistischen Staates zu lenken. In den Gewerkschaften und Stadtvierteln muss ein revolutionärer Pol aufgebaut werden, der sich auf den politischen Bruch mit dem Republikanismus von Mélenchon und dem syndikalistischen Reformismus stützt, und es müssen Demonstrationen vor Polizeistationen und Gerichten organisiert werden, die hinter diesen Forderungen stehen:

  • Sofortige Freilassung aller inhaftierten Jugendlichen! Aufhebung aller Anklagen!
  • Schmieden wir eine revolutionäre multiethnische Partei, die für eine Arbeiterregierung kämpft!
  • Bruch mit dem Republikanismus – keine Unterstützung für Mélenchon oder die NUPES!
  • Ersetzen wir die Bürokraten durch eine revolutionäre Gewerkschaftsführung – Bullen, Gefängniswärter und Manager raus aus den Gewerkschaften!
  • Um die Wohnungskrise zu bekämpfen, die besonders junge Menschen trifft, müssen die Großgrundbesitzer und Luxushotels sofort enteignet werden. Massiver Bau von billigen und qualitativ hochwertigen Wohnungen!
  • Für kostenfreien öffentlichen Nahverkehr rund um die Uhr in hoher Taktfolge!
  • Einstellung aller prekär Beschäftigten mit vollem Status! Massive Kampagne für gewerkschaftliche Organisierung!
  • Sofortige Streichung aller Bankschulden von kleinen Geschäften, Bars und Restaurants sowie aller Schulden von Studierenden.
  • Volle Staatsbürgerschaftsrechte für alle Immigranten!

1. [Neue ökologische und soziale Volksunion, unter Führung von Jean-Luc Mélenchon, umfasst: La France Insoumise, Parti socialiste, Europe Écologie Les Verts, Parti communiste francais, Ensemble!, Génération.]